Für die Ungeduldigen unter euch die Kurzantwort vorab: Erstmal hat das grammatische Geschlecht nicht besonders viel mit unserem biologischen Geschlecht zu tun.
Wo steckt das grammatische Geschlecht überall drin?
Wie jeder weiß, haben wir im Deutschen drei grammatische Geschlechter, auch genannt Genera im Plural und Genus im Singular: Das Maskulinum (der), das Femininum (die) und das Neutrum (das). Diese drei Genera haben Einfluss auf alle Nominalkategorien – also alle Wörter, die irgendwie mit Substantiven auftreten oder sie ersetzen. Neben den Substantiven an sich (mask. Stift, fem. Mine, neutr. Blatt) sind das alle möglichen Pronomen (er, sie, es, keine, welches, dies, jener), die Artikel (der Stift, eine Mine, kein Blatt) und Adjektive (ein schöner Stift, eine lange Mine, ein leeres Blatt).
Das grammatische Geschlecht ist willkürlich
Das grammatische Geschlecht der Substantive ist willkürlich festgelegt und nicht variabel. Der Stift kann also in keinem Kontext in der deutschen Sprache jemals zu *die Stift oder *das Stift werden. (Das Sternchen bedeutet, dass der Ausdruck ungrammatikalisch ist.) Stattdessen ist der Stift grammatisch gesehen immer maskulin. Warum der Stift maskulin und nicht etwa feminin oder neutral ist, hat inhaltlich betrachtet keinen Grund. Er ist also nicht maskulin, weil er irgendwelche männlichen Eigenschaften hat. Dasselbe gilt auch für Lebewesen wie der Hamster, die Maus oder das Pferd. Die Einteilung in die drei Genera ist eine rein sprachinterne Einteilung, die sich über hunderte Jahre entwickelt hat. Der unbestimmte Artikel entwickelte sich zuerst aus dem Zahlwort 1. Die bestimmten Artikel entwickelten sich später aus den Demonstrativpronomen.
Das Prinzip der grammatischen Kongruenz
Die anderen Wortarten sind da flexibler. Sie passen sich ihrer sprachlichen und nicht sprachlichen Umgebung an und können alle drei Genera formal zum Ausdruck bringen. Welches grammatische Geschlecht sie annehmen, richtet sich nach ihrem Bezugswort, also nach dem Genus des Substantivs (z. B. eine dünne Mine). Wie so oft im Deutschen gibt es Ausnahmen: Fragepronomen wie wer und Indefinitpronomen wie man sind nicht flexibel. Dieses Prinzip der Flexibilität wird grammatische oder syntaktische (Syntax bedeutet Satzbau) Kongruenz genannt und ist für uns nichts anderes als „korrektes Deutsch“.
Das war der langweilige Grammatikteil, den wir alle irgendwann mal in der Schule hatten.
Und hier wird es spannend!
Es gibt neben der grammatischen Kongruenz auch die semantische Kongruenz. Semantisch bedeutet „mit Bedeutung aufgeladen“. Bei substantivierten Adjektiven und Partizipien (Partizip I und Partizip II), die Personen bezeichnen, richtet sich das Genus nach dem Geschlecht der Person, z. B. der/die Zahlende, der/die Kranke, der/die Angerufene.
Zu guter Letzt gibt in Sachen Genus einen gewaltigen Unterschied zwischen Singular und Plural. Es wird nämlich nur im Singular unterschieden und ist im Plural neutralisiert. Beispiele:
Der Stift, die Mine und das Blatt: Sie liegen alle auf dem Tisch.
Der Bäcker und die Bäckerin kennen sich schon länger. Beide gingen zur gleichen Schule.
Der Reisende und die Angestellte trafen sich im Café. Sie umarmten sich innig.
Und damit noch einmal kurz zurück zum Prinzip der semantischen Kongruenz: Sie ist aus zweierlei Gründen ziemlich praktisch. Zum einen kann man den Artikel bei diesen substantivierten Adjektiven und Partizipien direkt gleichsetzen mit dem Geschlecht einer Person. Das macht es viel einfach und eindeutiger. Zum anderen sind diese Personenbezeichnungen im Plural frei von jedem Genus und da in diesem Fall Artikel = Geschlecht gilt, auch genderneutral. Sie sind hundertprozentig neutralisiert. (Bei anderen Pluralformen wie die Studenten ist das nicht der Fall. Dazu komme ich später.) Beispiele:
Der Kranke sollte seine Rechnungen zahlen.
Die Kranke hat ihre Bekannten informiert.
Die Kranken (auch: Kranke) sollten täglich ihre Medizin nehmen, um ihre Gesundheit nicht zu gefährden.
Im dritten Satz weiß man also nicht mehr, wie viele Männer und Frauen gemeint sind. Diese Erkenntnis wird für die nächsten Blogbeiträge wichtig sein.
Vielleicht doch nicht so willkürlich?
Klingt vielleicht noch alles ganz easy. Aber es wäre nicht unsere deutsche Sprache, wenn das schon alles wäre. Es gibt nämlich Ausnahmen – Ausnahmen von der angeblich willkürlichen Genuszuweisung bei Substantiven, die das Ganze noch ein wenig komplizierter machen. Einige Fälle lassen doch daran zweifeln, dass die Zuordnung des grammatischen Geschlechts immer frei von jeglicher Semantik sein soll (mal abgesehen von den substantivierten Adjektiven und Partizipien). Oder ist es etwa Zufall, dass die Mutter, die Tante und die Schwester grammatikalisch betrachtet alle feminin sind? Im nächsten Blogbeitrag wird es genau um solche Fälle gehen.