Wie kommt man dazu, sich mit dem Thema „Gender“ auseinanderzusetzen? Mario Barth habe ich das jedenfalls nicht zu verdanken. Das erste Mal wirklich ernsthaft mit dem Thema in Berührung gekommen, bin ich im Laufe des Bachelorstudiums an der Uni Mainz. Die Sprache spielt dabei eine wichtige Rolle.
Soziologie
Ich studierte Deutsch und Englisch auf Lehramt. Teil des Studiums waren die Bildungswissenschaften, wovon wiederum ein Teil Soziologie war. Zuvor hatte ich nie hinterfragt, warum sich Frauen so kleiden und schminken, wie sie es tun. Warum Männer in Männergruppen oft das starke Alphatier geben und warum Jungs bei ihrer Geburt blaue Strampelanzüge und Mädchen rosa Strampler bekommen. Die kürzeste Antwort, die es darauf gibt, ist: Weil diese Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit sozial konstruiert sind. Deshalb nennt man „Gender“ auch „das soziale Geschlecht“.
Unsere eigene Geschlechteridentität wird immer auch von unserem sozialen Umfeld beeinflusst und geprägt. Das klingt für einige vielleicht zunächst banal, für mich war es damals aber ein Aha-Effekt. Und dieser sollte mir in Zukunft zeigen, welche Reichweite „Gender“ in all unseren Lebensbereichen hat.
Linguistik – Wissenschaft der Sprache
Der Fokus legte sich dann auf das Linguistikstudium im Fach Deutsch. Ein sehr dankenswertes Seminar war „Sprachwandel“. Dort lernte ich ganz grundlegende Mechanismen und Faktoren von Sprache kennen, die bestimmen und erklären, warum sich Sprache wann, wo und wie verändert.
Eine sehr wichtige Erkenntnis für jeden dabei ist: Sprachveränderung lässt sich kaum aktiv steuern und beeinflussen. (Eine Ausnahme bildet beispielsweise die Rechtschreibreform von 1996.) Wenn man also z. B. einen Schuldigen dafür sucht, dass die deutsche Sprache zunehmend von Anglizismen beeinflusst wird, dann kann man das zwar gerne tun, ist aus wissenschaftlicher Sicht aber ziemlich sinnlos. Dieses Phänomen ist im Zuge der Globalisierung völlig natürlich. Etwas wie „Sprachverhunzung“ gibt es schlicht nicht, weil das implizieren würde, dass Sprache aktiv verhunzt würde. Die sozialen Medien zeigen heute ziemlich deutlich, wie unvorhersehbar es ist, ob sich ein Trend (oder ein Begriff) durchsetzt oder nicht.
Onomastik
Den entscheidenden Schritt in Richtung Genderforschung habe ich dem Seminar „Onomastik“ zu verdanken. Onomastik ist nichts anderes als Namenkunde – also die Wissenschaft über die Grammatik der Eigennamen. Im ersten Moment denkt man sich vielleicht: Wozu eine eigene Wissenschaft für Namen? Namen sind halt Namen. Das ist das Schöne an der Sprachwissenschaft. Wir allen kennen und beherrschen unsere deutsche Sprache, aber das bedeutet nicht automatisch, dass man weiß, warum etwas so ist, wie es ist.
Eine Sache hatte mich für den Rest des Bachelorstudiums nicht mehr losgelassen. Die lautliche Struktur eines Namens kann Informationen – wie zum Beispiel Gender – kodieren. Beispiel Tinkt und Veniema: Welcher Fantasiename wäre der Name für einen Mann und welcher für eine Frau? Wenn du jetzt sagst, dass Tinkt ein Männername ist und Veniema ein Frauenname, dann gehörst du zu den gut 90%, die das auch so sehen.
Warum ist man sich da so einig, wenn es doch Namen sind, die niemand in unserer Welt trägt? Die einzig mögliche Quelle für diese Information ist die lautliche Struktur. Es gibt bestimmte linguistische Eigenschaften, die wir mit Männlichkeit – oder genauer mit dem männlichen Stereotyp – assoziieren. Und es gibt jene, die wir mit Weiblichkeit bzw. dem weiblichen Stereotyp assoziieren.
Aus dieser Kenntnis ergeben sich zwei wichtige Ergebnisse – ein Praktisches und ein Theoretisches. In der Praxis bedeutet das, dass beispielsweise Unternehmen bereits in den Namen ihrer Produkte Informationen verstecken können. Das ist äußerst effektiv, weil es erstens beim Kunden unbewusst ankommt und zweitens Kaufentscheidungen oftmals nur, oder teilweise, anhand von Namen getroffen werden. Und in der Theorie beweist es uns, dass unsere Vorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit tiefer in uns verankert ist, als wir glauben zu wissen.
Ich werde an späterer Stelle natürlich darauf zurück kommen. Für den Moment sei nur gesagt: Darüber habe ich meine Bachelorarbeit geschrieben. Nach vielen gelesenen empirischen Studien zu diesem Phänomen wollte ich es selbst wissen. Ich erstellte eine ganze Reihe fiktiver Parfümnamen und fragte 400 Probanden, ob es sich dabei um Parfüme für Frauen oder Männer handelt. Das Ergebnis sprach für meine These, dass die Leute die Namen ganz genau zuordnen können.
Wissenschaftliche Hilfskraft am Deutschen Institut
Die Arbeit gefiel meiner Dozentin offenbar ganz gut, sodass ich anschließend für sie 3 Jahre lang als wissenschaftliche Hilfskraft im Deutschen Institut arbeitete. Die meiste Zeit habe ich Hexenverhörprotokolle in frühneuhochdeutscher Sprache auf sogenannte onymische Artikel – also Artikel vor Namen (z.B. der Florian) – untersucht, um herauszufinden, wann dieser wo (und bestenfalls zu welchem Zweck) entstanden ist.
Auf meiner Einführungsseite spreche ich von einem „tief verwurzelten Patriarchismus“. Ein Beispiel gefällig? Frauennamen wurden in der Regel von den Namen ihrer Ehemänner abgeleitet. Ein Großteil der deutschen Nachnamen entstand aus Berufsbezeichnungen. Und da die Männer arbeiteten (z.B. als Müller, der hieß dann zum Beispiel der Müller von Buxtehude) und die Frauen zu Hause waren und sich um Nachwuchs kümmerten, erhielt die Ehefrau einfach den Namen des Mannes mit „-in“ dran, also die Müllerin von Buxtehude. Das Anhängen von „-in“ nennt man Movierung. Im Grunde genommen hatten die Frauen also keine eigene Daseinsberechtigung, da sie nur über den Namen des Mannes kenntlich gemacht wurden. Ohne ihren Ehemann, als Witwe, hatten sie früher sowieso ein schweres Los.
Genderlinguistik: Sprache und Geschlecht
Im Master hat man schließlich etwas mehr Gestaltungsspielraum, was die Wahl der Seminare betrifft. Das wohl für mich wichtigste und beste Seminar während meines gesamten Studiums war dann eine Einführung in die Genderlinguistik. Ganz grundlegend wird in der Genderlinguistik die Wechselwirkung zwischen unserem biologischen Geschlecht (Sexus), dem grammatikalischen Geschlecht (Genus) und dem sozialen Geschlecht (Gender) untersucht.
Aber es kann auch um andere Dinge gehen. Etwa um Sprachpolitik, Frauenbezeichnungen, die Relevanz von Namen und sogar um nonverbale Kommunikationsmittel wie Bilder oder Schilder. Das Seminar wurde von Prof. Dr. Damaris Nübling geleitet. Sie gilt als bundesweit renommierte Sprachexpertin, besonders in den Bereichen Namenforschung und Genderlinguistik. Sie war quasi auch die Mentorin der Juniorprofessorin, für die ich arbeitete. Man kann also sagen, dass ich da so mehr oder weniger reingerutscht bin. Durch dieses Seminar begann ich zumindest, mich genauer mit dem Thema Gender auseinanderzusetzen.
Meine Master-Arbeit
Da ich meine Bachelorarbeit bereits in Deutsch schrieb, musste ich meine Masterarbeit in Englisch schreiben. Auch diese Gelegenheit konnte ich nicht ungenutzt lassen. Diesmal sollte es aber um Literatur gehen. Und was eignete sich besser als ein Werk zu untersuchen, das in der Zeit entstand, als die Rechte der Frauen revolutioniert wurden?
Dafür eignete sich eins meiner Lieblingswerke ganz hervorragend: The Great Gatsby von F. Scott Fitzgerald. Zugegeben: Auf den ersten Blick wirkt das nicht sonderlich intuitiv. Schließlich geht es in dem Werk vordergründig um den American Dream. Aber auch ein Autor oder eine Autorin kann nicht ohne Gender. Sobald er über Frauen und Männer schreibt, repräsentiert er ein bestimmtes Bild von ihnen. Diese Rollenbilder speisen sich aus den gesellschaftlichen Rollen der Menschen zu jener Zeit. The Great Gatsby entstand in den 1920ern, also kurz nachdem die Frauen in den USA nach jahrelangem Kampf das Wahlrecht erhalten haben. Meine Frage war also, inwiefern sich diese historischen Einflüsse in der Kreation seiner Figuren widerspiegelten.
Bevor ich euch mit Details langweile, nur eine Anmerkung, die man sich in der ganzen Gender-Debatte immer vor Augen halten muss. Vor gerade mal 100 Jahren wurden Frauen, die sich für mehr Frauenrechte oder Gleichberechtigung eingesetzt haben, vom Großteil der Bevölkerung ausgelacht.
Und teilweise wird das auch noch heute getan. Feministinnen und Feministen haben jedenfalls keinen leichten Stand in der Bevölkerung. Als einige wenige Frauen in den 1890ern Jahren die Forderung lautstark machten, dass auch sie das Recht zum Wählen haben, war dies für die Menschen völlig absurd. Auch damals schon war eins der beliebtesten Argumente der Konservativen: Frauen durften noch nie wählen gehen, also bleibt es auch so. Heute würde keiner mehr infrage stellen, dass Frauen wählen dürfen. Solche Rollenbilder verändern sich. Deshalb lohnt es sich, über sie nachzudenken. Das Argument „ist schon immer so, bleibt also so“ ist daher nichts anderes als ein schwaches Scheinargument, womit man sich der ganzen Debatte entziehen möchte.