Nach dem grammatischen, dem semantischen und dem sozialen Geschlecht geht es nun um das uns Vertrauteste: Das biologische Geschlecht.
Nochmal fürs Protokoll: Keine dieser Geschlechterkategorien ist gleichzusetzen mit einer anderen und vor allem sind sie zu unterscheiden vom biologischen Geschlecht. Diese Differenzierung fällt uns immer wieder schwer. Nicht zuletzt weil es teilweise deutliche Kongruenzen gibt, die den Eindruck entstehen lassen, es handele sich um dieselbe Kategorie. Hier denke ich vor allem an das grammatische Geschlecht. Das wird oft genutzt wird, um das biologische Geschlecht zu markieren (Typ der/die Kranke).
Das biologische Geschlecht: Die gute, alte Ordnung
Das biologische Geschlecht kennen wir seit unserer frühen Kindheit. Wir werden hineingeboren und können uns einer Zuordnung nicht entziehen. Die allermeisten von uns werden als Mädchen oder Junge identifiziert. Frauen haben weibliche Geschlechtsmerkmale, Männer haben männliche Geschlechtsmerkmale. Gesellschaftlich wird diese Ordnung als natürlich oder naturgegeben aufgefasst. Sie ist insofern eine „angenehme“ Kategorisierung als sie in ein Schwarz-Weiß-Schema passt, das einfach ist und uns vertraut ist. Soweit, so gut.
Das historische Urteil des Bundesverfassungsgerichts
Umso erstaunter war ich im November 2017, wie positiv das historische Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum dritten Geschlecht aufgenommen wurde. Das dritte Geschlecht beschreibt Intersexuelle, die sich aufgrund sowohl männlicher als auch weiblicher Geschlechtsmerkmale keinem eindeutigen Geschlecht zuordnen können und wollen. In Deutschland sind das schätzungsweise 80.000 Menschen. Es geht hier nicht um eine Laune oder eine Frage des Zeitgeistes, sondern um einen biologischen Befund.
Bisher war es rechtlich so geregelt, dass im Geburtenregister als Geschlecht weder männlich noch weiblich angekreuzt wurde. Die Personen wurden geschlechtlich unsichtbar gemacht, obwohl auch sie – wie jeder Mensch – sehr wohl eine eigene Vorstellung von ihrem Geschlecht haben. Das Bundesverfassungsgericht entschied sich für die Sichtbarmachung dieser Menschen. Sie entschied sich für die dritte Option, für die sich die intersexuelle Person Vanja bis in die höchste gerichtliche Instanz geklagt hatte.
Das Bundesverfassungsgericht hatte völlig richtig erkannt, dass hier eine Minderheit aufgrund ihres Geschlechts diskriminiert wird und diese Praxis nicht mit unserem Grundgesetz vereinbar ist. Schließlich ist unser Geschlecht ein fester Anker unser eigenen Persönlichkeit. Und es hat gezeigt, dass hierzulande Gesetz und Recht wichtiger sind als feste gesellschaftliche Strukturen. Wir erinnern uns, dass Homosexualität vor nicht allzu langer Zeit noch strafbar war.
Zusammenfassend heißt das: Es gibt in Deutschland nicht mehr nur zwei Geschlechter, sondern drei. Bis Ende des Jahres muss der Gesetzgeber nun im Geburtenregister eine dritte Option schaffen. Wie sie heißen wird, ist mir zumindest noch nicht bekannt. Diskutiert wurden „inter“, „divers“, „X“ und „Weiteres“. Kritisiert hingegen wurde Seehofers Vorschlag „Anderes“, weil es das dritte Geschlecht als „unnormal“ ausgrenze.
Die Welt ist komplexer als in unserer Wahrnehmung
Uns allen zeigt der Beschluss, dass die Welt komplexer ist als in unserer Vorstellung. Und mir wurde ganz warm ums Herz, als die Menschen in Straßeninterviews genau diese Komplexität erkannten und den Beschluss guthießen. Durch die Anerkennung des dritten Geschlechts wird ja auch niemandem etwas weggenommen. Im Gegenteil: Mehr Menschen gewinnen etwas hinzu. Sogar die katholische Kirche hat die Entscheidung begrüßt!
Intersexuelle gab es natürlich schon immer. Sie sind keine Erfindung des 21. Jahrhunderts. Der Unterschied ist nur, dass sie mit aller Macht unsichtbar gemacht wurden. Man redete nicht drüber und in vielen Fällen drängten Ärzte auf eine eindeutige Zuordnung. Je nach Ausprägung der äußeren Geschlechtsmerkmale entschied man sich für eine Operation, damit die Geschlechtszuordnung eindeutig wurde. Für die Betroffenen war das fatal: Traumatische Lebens- und Identitätskrisen waren die Folge. Sie wurden als etwas begriffen, was sie nicht sind. Diese Praktiken gibt es leider auch heute noch. Sie werden aber eines Tages hoffentlich der Vergangenheit angehören.
„Das Schlimmste, was mir passiert ist“
Eine Geschlechtsidentität ist eben nichts, das man sich zurechtoperieren kann. Eigentlich sollte das total logisch sein. Aber wir werteten unsere traditionelle Vorstellung von Männlichkeit und Weiblichkeit höher als die Realität. Glücklicherweise hat das Bundesverfassungsgericht dieser falschen Priorisierung zumindest für Intergeschlechtliche rechtlich ein Ende gesetzt. Allerdings: Geschlechtsoperationen an Neugeborenen sind auch heute noch legal.
Sandrao, früher hieß sie Sandra, die in dieser WDR-Doku spricht, musste als Kind solch eine Operation durchmachen. „Das ist das Schlimmste, was mir in meinem Leben passiert ist“, sagt Sandrao im Interview. Denn tatsächlich fühlt sich Sandrao nicht als Frau und nicht als Mann. Sandrao musste aber ihr Leben lang das Rollenbild einer Frau erfüllen, woran sie kläglich scheiterte. „Jetzt, wo ich weiß, dass ich ‚dazwischen bin‘, verstehe ich mich auch besser.“ Heute klärt Sandrao auf, informiert die Menschen darüber, was diese menschenrechtsverletzenden Operationen mit den Betroffenen machen.
Intergeschlechtliche Menschen sind der lebende Beweis für geschlechtliche Vielfalt. Wer auf das alleinige Existenzrecht von Männlichkeit und Weiblichkeit pocht, verschließt die Augen vor der Realität und negiert die Existenz von minderheitlichen Genderidentitäten.